Der Verlust meiner Frau – zwischen Liebe, Wut und Ohnmacht
Aufgeben war eine Option, die wir nicht haben. Das hatten wir uns geschworen, als wir die Diagnose Bronchialkarzinom bekamen – und doch war es genau das, was mir am Ende blieb: zusehen zu müssen, wie sie ging. Nicht an meiner Seite. Nicht mit mir im Arm. Nicht einmal im Blick.
Meine Frau war im November 2018 beim Kardiologen zu einer Routinekontrolle. Es ging um ihre Lunge, es war eine Vorsorgeuntersuchung, genau wie Mammografie, oder Prostata ab einem gewissen Alter ansteht.
Nach der Untersuchung fragte sie den Radiologen, ob alles in Ordnung sei. Er sagte, sie solle zu ihrer Hausärztin gehen, er werde ihr einen Brief schreiben. Was sie dann auch tat. Die Ärztin sagte ihr, es sei alles okay. Wir haben nichts anderes erwartet. Wie sich später herausstellte, hatte sie den Brief gar nicht gelesen, so dass wir die Diagnose erst sechs Monate später bekamen – sechs Monate können bei Krebs eine lange Zeit sein. Im März fing sie an zu husten, erst nur ein bisschen, dann wurde es immer mehr. Sie ging zu ihrer Ärztin, die ihr Medikamente gegen Husten und Bronchitis verschrieb.
Die Urlaubszeit begann und sie fuhr nach Polen, um ihre Familie zu besuchen, das tat sie nur zweimal im Jahr. Ihre Tochter hatte Semesterferien und sie wollten zusammen ein bisschen wegfahren und Zeit miteinander verbringen. Ihr Husten wurde so schlimm, dass ihre Schwester sie wieder zurück nach Hause schickte, um das ärztlich abklären zu lassen. Diesmal ging ich mit zum Arzt und bestand auf professionelle Abklärung. Wir bekamen eine Überweisung in ein Krankenhaus, wo sie stationär aufgenommen wurde. Die Diagnose riss uns den Boden unter den Füßen weg. Bei ihr wurde ein Tumor in der linken Lungenhälfte gefunden . Nach einer Biopsie und anschließender pathologischer Untersuchung stellte sich heraus, dass der Tumor bösartig war. Das erklärte auch ihren Husten. Der Tumor reizte Rezeptoren in der Lunge, weswegen sie husten musste.
Die Diagnose war ein Schock für uns und wir waren beide zuerst total überfordert, da wir mit Krebs mehr Erfahrungen hatten, als uns lieb war – kein einziger Fall ging gut aus, alle waren verstorben. Ich fing an, mir schlimme Vorwürfe zu machen, da ich den Husten anfangs nicht ernst genommen hatte, sie ging doch zum Arzt…
Das Tumorkonsil sah eine hohe Heilungschance, sodass ihr alle Behandlungen genehmigt wurden. Sie hatte nur einen Tumor in der Lunge, leider genau neben einer Hauptschlagader – deswegen konnte man nicht operieren, was natürlich die erste Wahl gewesen wäre. Der Professor, der uns aufklärte, war sehr freundlich und forderte uns auf, uns mit der Sache zu beschäftigen und bei unserem nächsten und letzten Treffen Fragen zu stellen. Er wies darauf hin, dass es keine dummen Fragen gab. Ich nahm sein Angebot an, ihn bei Fragen zu kontaktieren -ich vertraute ihm in der ganzen Zeit der Behandlung als einzigem und das war auch gut so. Ich nahm sein Angebot nur zu gerne an, ihn auch in Zukunft bei Fragen zu kontaktieren.
Ich fing an, zum Thema zu recherchieren, wie es wohl jeder tut, der betroffen ist. Heilungschancen Lungenkrebs, Lebenserwartung Lungenkrebs usw. Das war der Moment wo die Angst begann.
Ab jetzt suchte ich in jeder Freien Möglichkeit nach Alternativen Möglichkeiten der Behandlung. Ich lernte viel über Krebs. Wenn ich nicht betroffen gewesen wäre, hätte ich das Thema vermutlich spannend gefunden, so fand ich aber heraus, wozu eine Krebszelle alles im Stande ist und warum sich die Behandlung so schwierig gestaltet. Es war wie ein Agententhriller. Es ging um tarnen, täuschen, Fehlinformationen weitergeben. Die Krebszelle konnte eine T-Zelle dazu bringen, sich selbst zu zerstören.
Wir bekamen eine Überweisung in ein Krankenhaus, das auch gleichzeitig Cancer Center war. Die Strahlentherapeutin machte die Aufklärung. Sie schaffte es, Optimismus zu verbreiten. Sie gab uns Informationen über die Therapiemöglichkeiten. Sie erklärte, was Bestrahlung sei, und sagte auch, dass sie in Verbindung mit einer Chemo kommen würde. Die Haare würden meiner Frau aber nicht ausfallen. Sie war sehr positiv gestimmt und sagte, dass wir das in den Griff bekommen würden, da der Krebs nicht gestreut hatte.
Wir waren vorsichtig optimistisch und schafften es, halbwegs ein normales Leben zu führen. Es gab nur eine Änderung: Sie ging nicht mehr arbeiten. Das war kein Problem – ich war selbständig und verdiente genug. Mir war nicht klar, wie schnell sich das ändern sollte. Wir beantragten Krankengeld bei der AOK und sie bekam auch einen sogenannten Taxischein, sie war jetzt nicht mehr auf öffentliche Verkehrsmittel
angewiesen, was das Risiko einer Ansteckung mit einem Krankheitserreger erheblich verminderte. Ich muss wirklich sagen, die ganze Zeit über verspürte ich so etwas wie Dankbarkeit gegenüber der Krankenkasse. Egal was war, sie waren immer verständnisvoll und unterstützten uns, wo es nur ging.
Wir gingen in eine Klinik für Nuklearmedizin und ließen ein PET-CT machen, was “Gott sei dank” bestätigte, dass sie “nur” diesen einen Tumor hatte. Wir waren nun wirklich optimistisch, der Husten
war auch weg, alles schien wieder in Ordnung zu kommen. Die Bestrahlung fing an, es gab keine Schmerzen und damit auch keinen Grund, Angst zu haben. Mittlerweile fing auch die erste Gabe der Chemo an, was Anfangs auch nicht schlimm war.
Die Ärztin sagte, dass man die Chemo ändern wollte. Auf die Frage, wieso das nötig sei, sagte sie: rein vorsorglich. Ich fragte, ob sich etwas verschlechtert hätte – sie sagte nein.
Mittlerweile kam ihre Schwester aus Polen, um uns zu unterstützen. Ich war sehr froh und dankbar.
Eines Tages kam ich nach Hause und die Schwester schnitt ihr die Haare ab. Sie gab zwar vor, cool zu sein, aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich sah ihr an, wie schwer ihr das fiel. Frauen haben eine andere Beziehung zu ihren Haaren als Männer – deswegen bekommen sie von der Versicherung auch eine Perücke bezahlt.
Ich machte mich jede Nacht im Internet auf die Suche nach Informationen, nach neuen Therapien oder nach etwas, das mir Hoffnung geben konnte. Ich lernte schmerzhaft, die Lügner von den Redlichen zu unterscheiden, und fing nach einer Weile an, mir auch alternative Dinge anzusehen.
Ich entdeckte die Immuntherapie, die – wie es schien – bei manchen Betroffenen wahre Wunder bewirken konnte. Ich lernte, dass es drei Jahre dauerte, bis eine Therapie auf dem Markt zugelassen wurde, und dass es zuerst Tests mit Krebskranken gab.
Ich erkannte die Chance, dass meine Frau ein Mittel bekommen könnte, das erst in drei Jahren auf den Markt kommen würde. Das war unser Notfallplan. Ihr Onkologe sagte, er habe bei dem Professor studiert, der an der Studie arbeitete, und könnte uns dorthin vermitteln.
Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass ich ihn gar nicht gebraucht hätte – das sollte ich erst viel später erfahren.
Mittlerweile begann die Fatigue – ausgelöst durch die Chemo. Es ist wie eine chronische Erschöpfung. Ich sagte ihr zwar, dass das vermutlich passieren würde, aber das verängstigte sie mehr, als mir lieb war. Sie bekam richtig Angst, und ich konnte immer weniger arbeiten gehen, weil ich bei ihr sein musste.
Bald schon konnte ich sie nicht mehr lange allein lassen. Sie stürzte in eine tiefe Depression, und ich fragte mich nach dem Nutzen der Chemo. Ich fragte ihren Onkologen, wann er uns endlich den Termin vermitteln würde. Er sagte, es gäbe keinen Grund, jetzt aktiv zu werden – ich wollte es aber trotzdem erledigt haben. Leider sagte er nein.
Dann bekamen wir einen Anruf aus dem Krankenhaus – gute Nachrichten. Wir sollten vorbeikommen. Es hieß, der Krebs sei nicht mehr nachweisbar. Wir fingen an zu weinen und kauften Champagner.
14 Tage später hatten wir den nächsten Termin, und ihre Tochter kam aus Krakau, um dabei zu sein. Der Arzt, mit dem wir normalerweise zu tun hatten, war verhindert – so hatten wir einen anderen Arzt im Gespräch.
Er sagte knallhart, er verstehe nicht, was wir sagten. Selbstverständlich sei der Krebs noch da, und die Behandlung müsse auf alle Fälle fortgesetzt werden. Ich verstand die Welt nicht mehr. Meine Frau rastete vollkommen aus und fragte zu Recht, wieso sie die ganze Zeit angelogen worden sei.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Meine Frau rastete aus.
Sie schrie – aus Schmerz, aus Wut, aus Enttäuschung.
„Warum hat man uns die ganze Zeit angelogen?“
Ich konnte ihr keine Antwort geben.
Am nächsten Tag gingen wir zur Hausärztin.
Wir baten um den Krankenhausbrief.
Sie druckte ihn aus und gab ihn uns wortlos mit.
Ihre Tochter, die in Krakau lebte und als Fitnesstrainerin arbeitete, bekam den Bericht in die Hände.
Sie schickte ihn an eine befreundete Onkologin.
Kurze Zeit später rief diese an.
Ihre Stimme war ernst.
Sie sprach Klartext:
„Mit dem Code T4N3M1a und PD-L1 bei 1 % – das wird sie nicht schaffen.“
Die Tochter rannte weinend aus dem Zimmer.
Meine Frau bekam eine Panikattacke.
Sie spürte, dass gerade etwas Schlimmes ausgesprochen worden war.
Am nächsten Morgen – es war kurz nach halb sechs – saß ich am Küchentisch.
Ich nahm den Brief zur Hand, den wir am Tag zuvor bekommen hatten.
26. November 2018.
Ich las.
Und mir schnürte es die Kehle zu.
Da stand es. Klar. Unübersehbar:
„Mögliche Raumforderung im Bereich des linken Hilus. Eine weitere Abklärung mittels CT des Thorax sollte erfolgen.“
Sie hatten den Verdacht schon damals.
Und niemand hat etwas gesagt.
Die Hausärztin hatte den Befund offenbar nicht einmal gelesen.
Stattdessen:
„Alles in Ordnung.“
Sechs Monate gingen verloren.
Sechs.
Ich war fassungslos.
Wütend.
Und voller Schuldgefühle.
Denn ich hatte ihr geglaubt.
Die Lüge, die schützen sollte
Ihre Tochter wachte auf vom Lärm.
Sie kam ins Wohnzimmer gerannt –
völlig verstört, weil ich so ausgerastet war.
Ich stand da, die Hände zu Fäusten geballt.
Mein ganzer Körper zitterte.
Sie fragte immer wieder, was los sei.
Meine Stimme war weg.
Ich konnte es nur flüstern:
„Sie wussten es. Seit November. Sie haben nichts gesagt.“
Sie erstarrte.
Dann sagte sie leise:
„Bitte – wir dürfen es ihr nicht sagen. Das würde sie zerstören.“
Und ich wusste: Sie hatte recht.
Doch da rief meine Frau aus dem Schlafzimmer:
„Was ist los? Warum seid ihr so laut?“
Ich ging hinein.
Sie sah mich an, suchend, besorgt.
Ich holte tief Luft und sagte:
„Gyula hat auf seiner Baustelle Mist gebaut. Er braucht Geld. Dringend.“
Sie stöhnte genervt auf.
Schimpfte über Gyula.
Und beruhigte sich wieder.
Ich ließ sie glauben, es sei jemand anderes schuld.
Damit sie nicht ahnt,
wie sehr gerade ihr eigenes Leben aus den Fugen geraten war.
Abschnitt III – Was ich ihr noch sagen musste
Das ließ mich nicht mehr los.
Sechs Monate.
Sechs Monate, in denen wir hätten kämpfen können.
Nach der Beerdigung ging ich zu ihrer Hausärztin.
Ich saß nicht lange.
Ich sagte auch nicht viel.
Nur diesen einen Satz:
„Meine Frau lässt Sie schön grüßen. Sie meint, Sie sollten in Zukunft die Briefe der anderen Ärzte lesen. Davon könnten Leben abhängen.“
Ich hielt kurz inne.
Dann sah ich sie an – ganz ruhig.
„Sie hat ihres verloren.“
Und dann stand ich auf und ging.
Ich ging.
Weil ich wusste:
Wenn ich noch einen Moment länger geblieben wäre,
hätte ich vielleicht etwas getan,
das man nicht mehr zurücknehmen kann.
Es begann eine irre schwere Zeit. Ich tat, was ich konnte, kam aber manchmal selbst an meine Grenzen. Sie wurde teilweise gemein. Ich sagte ihr, sie dürfe kein Opfer werden – weil alle sterben würden. Aber es wurde immer schlimmer. Und dann fing auch noch Corona an.
Ich durfte nicht mehr zu den Untersuchungen mit. Sie sagten meiner Frau, dass eine Corona-Infektion ihr Todesurteil sei und dass ich vorsichtig sein müsse, um sie nicht anzustecken.
Es war psychisch sehr belastend. Ich hatte Angst, einkaufen zu gehen, und bin beim kleinsten Husten oder Niesen rausgerannt. Die Behandlung wurde zwei Monate eingestellt, und meine Frau wurde zusehends apathisch.
Ich rief bei der psychoonkologischen Abteilung an und sprach mit einer sehr verständnisvollen Frau. Eine Stunde später kam ein Anruf – sie solle am nächsten Tag zur Behandlung ins Krankenhaus.
Ich rief ihren Onkologen an, aber der verweigerte mir immer noch die Hilfe – mit der Begründung, dass das die letzte Möglichkeit sein sollte und wir noch lange nicht so weit wären. Ihre Blutwerte seien sehr gut.
Wir gingen zum Gespräch ins Krankenhaus – diesmal durfte ich mit. Ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl.
Als wir von den sechs Metastasen erfuhren, waren wir zwar gemeinsam beim Arzt, aber sie war geistig abwesend. Es war, als sei sie gar nicht richtig da. Unsere Kommunikation wurde schwierig.
Sie sagte: „Ich werde sterben, aber du musst leben.“
Ich habe ihr das bis heute nicht verziehen.
Ich bin immer noch hier.
Ich leide.
Ich bin allein.
Und unfähig, mich zu binden.
Ich schrieb eine lange E-Mail an ihre Familie, in der ich die ganze Situation schilderte – auf Englisch, da ich nicht so gut Polnisch sprach. Ich ließ kein Detail aus.
Dann suchte ich weiter nach einer Lösung. Plötzlich kam sie panisch ins Zimmer, schrie:
„Ich habe sechs Metastasen? Woher weißt du das?“
Sie zitterte, hatte große Angst, telefonierte stundenlang mit ihrer Schwester.
Ihre Familie war wohlhabend und lebte im exklusivsten Vorort ihrer Kleinstadt. Wer hier wohnte, hatte es geschafft – Notare, Ärzte, Firmeninhaber. Ich hatte ein paar Mal mit einem Arzt aus der Nachbarschaft gesprochen und kannte ihn deswegen. Dieser Arzt erzählte meiner Schwägerin, dass er einen Mann kenne, der Krebs heilen könne – sein Neffe sei Chemiker, sie hätten zusammen eine Methode entwickelt. Er selbst kenne Menschen, die diesen Weg erfolgreich gegangen seien und genesen wären – anders als andere, die sich für die Schulmedizin entschieden hätten.
Kurz darauf rief dieser Scharlatan meine Frau an. Er war rhetorisch sehr geschickt und überzeugte sie, eine spezielle Krebsdiät zu machen. Ich hatte bis dahin alles daran gesetzt, dass sie körperlich stark blieb. Ich achtete auf ihre Ernährung, darauf, dass sie bei Kräften blieb. Doch nun bestellte sie einen Entsafter und ließ täglich kiloweise Gemüse liefern. Sie nahm nur noch diese Säfte zu sich – nichts anderes mehr.
Ich hielt das nicht lange aus. Ich riss ihr das Telefon aus der Hand und bedrohte ihn. Ich sagte ihm ins Gesicht, dass er ein Scharlatan sei und dass ich ihn und den Arzt anzeigen werde. Danach meldete er sich eine Weile nicht.
Aber meine Frau veränderte sich. Sie wurde aggressiv, sagte, ich wolle sie umbringen. Ich versuchte zu erklären, dass sie, wenn sie diese Diät machen wolle, es bitte ärztlich begleitet tun müsse – mit regelmäßigen Blutwertkontrollen.
Ich sprach auch mit meinem Schwippschwager und sagte ihm: Wenn jemand Krebs wirklich heilen könne, wäre er automatisch Milliardär. Es gäbe Studien, Beweise, öffentlich zugängliche Erfolgsgeschichten. Ich suchte weiter. Fand eine Klinik in Texas, die solch eine Diät entwickelt hatte, und stieß nach langem Suchen auf einen Onkologen in der Sächsischen Schweiz, der die gleichen Therapien anbot. Es fehlten mir die Belege, aber er war wenigstens ausgebildeter Arzt.
Ich sprach erneut mit ihrer Familie. Wir vereinbarten einen Arzttermin für den nächsten Tag. Ich checkte mein Auto, wollte sichergehen, dass nichts dazwischenkommt. Doch in der Nacht sagte sie plötzlich:
„Ich fahre nicht. Ich glaube lieber dem Scharlatan.“
Sie sprach mit mir auf eine Art, die mich innerlich zerriss. Ich war ohnmächtig vor Wut. Ich dachte: „Er bringt sie um, und alle sehen zu.“ Dann tauchten Autos mit polnischen Kennzeichen auf, brachten Aluminiumflaschen und Supplemente. Mein Schwippschwager erwähnte beiläufig, dass das Ganze 60.000 Euro koste.
Ich sagte: „Dann bestellt doch gleich jemanden, der sie erschießt – dann muss sie nicht so lange leiden.“ Danach redeten wir nicht mehr miteinander.
Am Dienstag erfuhr ich, dass die Familie sie am nächsten Tag abholen würde, um sie nach Polen zu bringen. Ihre beste Freundin Marta war an dem Tag bei uns. Ich sagte:
„Es kann sein, dass wir sie heute das letzte Mal lebend sehen.“
Und so war es.
Am Mittwoch, dem 20.06., ist sie gestorben.
Sie ging, ohne mir einen Blick zu schenken. Ohne ein Wort. Einfach so.
Später sagte mir meine Schwägerin, dass meine Frau es bereut habe – dass sie nicht auf mich gehört hat.
In der Trauerzeit hatte ich häufig Schmerzen in der Brust. Ich dachte, es sei das Herz.
Meine Psychologin sagte: „Das ist Wut.“
Und sie hatte recht.
Mein Weg nach dem Tod meiner Frau – ein persönlicher Erfahrungsbericht
1. Die Nachricht auf der Baustelle
Es war ein Mittwoch. Ich arbeitete mit einem sehr guten Freund auf einer Baustelle. Die Arbeit war sehr staubig, deshalb hatte ich mein Handy im Auto gelassen. Nachdem wir fertig waren und aufräumten, ging ich zum Auto. Es war etwa 17 Uhr, als ich das Handy in die Hand nahm. Ich sah eine WhatsApp-Nachricht. Darin stand:
„Deine Frau ist heute gestorben, es tut uns leid.“
Es dauerte eine Weile, bis ich die Bedeutung der Worte wirklich verstand. Zum Glück war ich nicht allein, sondern in Begleitung meines Freundes Attila, der wirklich alles versuchte, um mich aufzufangen.
2. Der gemeinsame Kampf gegen den Krebs
Ich hatte keine Gelegenheit, mich persönlich von ihr zu verabschieden. Ich hätte ihr gerne noch einmal gesagt, dass ich sie liebe, und sie ein letztes Mal in den Arm genommen – so wie ich es ein Jahr lang jeden Tag getan hatte.
Anfangs sah es gut aus. Der Tumor war nur an einer Stelle, leider direkt neben einer Hauptschlagader, sodass eine Operation nicht möglich war. Nach Chemo und Bestrahlung gab es praktisch keinen Nachweis mehr, dass sie Krebs gehabt hatte.
Dann kam Corona. Die Behandlung wurde für zwei Monate unterbrochen. Als es weiterging, hatte sie sechs Metastasen und keine Kraft mehr. Ich versuchte alles, aber sie wollte nicht mehr kämpfen.
3. Die Beerdigung in Polen
Sie hatte immer gesagt, dass sie verbrannt werden möchte. Das Krematorium in der Kleinstadt in Polen war jedoch auf Wochen ausgelastet. So kam es, dass ich mich drei Tage nach ihrem Tod am offenen Sarg von ihr verabschieden konnte. Ich hatte Zeit, niemand störte mich.
Als ihr Sarg später heruntergelassen wurde, musste ich gehen, weil mir die Kraft aus den Beinen wich. Ich bin gemeinsam mit zwei Freundinnen von ihr nach Polen gefahren. Die beiden kümmerten sich rührend um mich.
Ich machte mir nie Vorwürfe – nie. Was ich in diesem Jahr geleistet habe, wird vielleicht nicht jeder verstehen. Aber jeder, der um seinen Partner gekämpft hat, jede Nacht im Internet nach Lösungen gesucht hat, aufgehört hat zu schlafen – der wird es verstehen.
4. Zusammenbruch und Kontakt zum Jobcenter
Nach meiner Rückkehr musste ich zum Jobcenter. Zuständig war die Stelle für Selbstständige. Alles lief wegen Corona nur telefonisch. Ich rief an, aber erreichte niemanden. Irgendwann rief mich eine Frau zurück. Ich schilderte ihr meinen Fall. Sie hörte geduldig zu und versprach, mir die Unterlagen zuzuschicken. Ich gab ihr extra meine neue Adresse.
Nach etwa 14 Tagen rief ich erneut an. Sie entschuldigte sich und sagte, sie habe die Unterlagen an meine alte Adresse geschickt. Unsere Ersparnisse waren aufgebraucht, und ich war wirklich verzweifelt. Endlich kamen die Unterlagen. Den Bogen mit den Fragen nach dem Einkommen meiner Frau ließ ich leer und legte eine Kopie der Sterbeurkunde bei.
Drei Wochen später kam ein Brief mit einer Aufforderung zur Mitwirkung. Ich rief erneut an und sagte:
„Meine Frau ist tot.“
Die Sachbearbeiterin sagte, ich solle meinen Ton mäßigen. Ich sagte ihr, ich bräuchte Hilfe. Sie lachte und sagte:
„Die Anträge werden in der Reihenfolge des Eingangs bearbeitet“,
und legte auf.
Ich hatte seit Wochen kaum geschlafen. Ich befand mich in einem Ausnahmezustand. Ich rief stundenlang ihre Nummer an – immer wieder, über Stunden. Irgendwann meldete sich eine spezielle Hotline und sagte mir:
„Sie terrorisieren das Jobcenter.“
Da brach ich zusammen. Alles brach aus mir heraus. Die Frau an der Hotline sagte:
„Sie brauchen dringend ärztliche Hilfe.“
Sie versprach, sich um die Rückstände bei der Versicherung zu kümmern. Meine Versichertenkarte wurde wieder freigeschaltet. Ich solle sofort zum Arzt gehen und mir keine Sorgen machen.
5. Die erste Ärztin und der Beginn der Erholung
Ich ging zur Ärztin – es war die Hausärztin meiner verstorbenen Frau. Eine unglaublich herzliche Frau, die ihre Patient*innen auch mal in den Arm nimmt. Ich sagte am Telefon, dass ich Hilfe brauche und dass meine Frau gestorben sei. Ich bekam gleich für den nächsten Tag einen Termin.
Sie hörte mir eine Stunde lang zu, überlegte, ob es nicht besser sei, mich direkt ins Krankenhaus einzuweisen – ich sei ganz grau im Gesicht. Sie verschrieb mir Beruhigungsmittel und ein Schlafmittel. Danach schlief ich eine Woche lang fast durch. Ich stand nur auf, um auf die Toilette zu gehen oder Wasser zu trinken.
Nach einer Woche war ich wieder bei ihr. Ihre Erleichterung war sichtbar. Ich sah besser aus und fühlte mich auch besser. Dennoch wurde es mit jedem Tag schwieriger, nach Hause zu gehen. Sobald ich einen Fuß über die Schwelle setzte, begann das Martyrium. Die Leere war unbeschreiblich – der Schmerz ebenfalls.
6. Die neue Sachbearbeiterin und Hilfe durch die Caritas
Meine Freunde machten sich große Sorgen. Sie kannten mich seit Jahrzehnten, aber so hatten sie mich noch nie erlebt. Dann kam die neue Sachbearbeiterin vom Jobcenter. Sie wurde meine Anlaufstelle für alles – ausdrücklich auf ihren Wunsch hin. Sie sagte:
„Wenn Sie auf dumme Gedanken kommen, rufen Sie mich an.“
Nach einiger Zeit vermittelte sie mich zur Caritas. Dort hörte mir eine Frau zu und griff mir unter die Arme, wo es nötig war. Ich war nicht in der Lage, die einfachsten Dinge zu erledigen. Ich war gefangen in Gedankenspiralen, aus denen es keinen Ausweg gab.
Ich bemühte mich selbst um einen Platz in der Psychiatrie – aber es sollte fast ein Jahr dauern, bis ich einen Termin bekam. Die Frau vom Jobcenter und die von der Caritas kümmerten sich in dieser Zeit um mich. Meine Freunde gingen für mich einkaufen und wollten mich mit zur Arbeit nehmen, damit ich nicht allein war. Aber ich war nicht in der Verfassung, vor Kundschaft zu stehen – ich blieb also zu Hause.
7. Erste Schritte in der systemischen Beratung
Eines Tages rief mich meine Sachbearbeiterin an. Sie sagte, es gäbe einen Platz in der systemischen Beratung, und fragte, ob ich das möchte. Die Plätze seien begehrt, und es wäre gut, wenn jemand dort wäre, der auch bereit ist, sich darauf einzulassen.
Die Beratung lief coronabedingt telefonisch ab. Es fühlte sich fast an wie bei „Drei Engel für Charlie“ – man hörte nur eine Stimme am Telefon. Das erste Gespräch war herzlich. Es wurden nur ein paar Fragen gestellt, aber die beschäftigten mich länger, als ich dachte.
Nach und nach merkte ich, dass sich etwas in mir veränderte. Ich war wieder in der Lage zu denken, das Grübeln wurde weniger. Dieses ständige Grübeln hatte mich sehr geschwächt. Es war wirklich schlimm.
Ich war beeindruckt davon, wie ruhig und klar die Leute von der systemischen Beratung blieben. Auffällig war, wie oft es um meine Familie ging. Besonders um meine Mutter, die mich als Kind schwerst misshandelte – körperlich und emotional. Ich war ihr Hassobjekt.
Auch mein großer Bruder kam zur Sprache – ein Mensch, der mich mit seiner Empathielosigkeit und Rücksichtslosigkeit bis heute schnell in Rage bringen kann. Heute weiß ich, dass diese familiären Erfahrungen Auslöser meiner Borderline-Störung waren.
Bei einem Gespräch kippte die Stimmung in Sekunden – von Lachen in tiefe Wut. Die Therapeutin war überrascht, blieb aber ruhig und schaffte es, wieder mit mir zu kommunizieren. Sie sagte etwas, das ich bis heute in mir trage:
„Warum schlechte Energie mit guter beantworten?“
Seitdem achte ich darauf, welche Energie ein Mensch mitbringt, wenn ich ihn kennenlerne. Das hat mir wirklich geholfen.
„Der Körper spürt es oft vor dem Kopf.“
Und genau das ist es.
Die Therapeutin war hochschwanger. Irgendwann wurde sie von meinem Fall abgezogen. Ich spürte, wie schwer ihr das fiel. Der Abschied war kurz, aber bedeutungsvoll. Sie hatte mich aufgebaut und meine Entwicklung miterlebt.
Ihr Nachfolger war ein Mann – nach einer Eingewöhnungsphase verstand ich mich auch mit ihm gut. Ich war jemand, der jeden Termin wahrnahm, pünktlich war und seine Zusagen einhielt. Diese Zeit war wichtig für mich.
Vielleicht ist es der Grund, warum ich mich heute mit systemischer Beratung beschäftige – in Verbindung mit meinem Blog könnte das eine Zukunft für mich sein.
Mein Weg: Die Suche nach Hilfe – und eine Begegnung, die alles veränderte
Endlich bekam ich einen Termin beim Psychiater. Überall waren Tafeln angebracht: „Maximal 10 Minuten wegen Corona“.
Ich war verzweifelt, wie sollte ich das alles in zehn Minuten erklären?
Er hörte mir zwei Stunden lang zu – und merkte den Ernst der Situation.
Er diagnostizierte eine schwere rezidivierende Depression und verschrieb mir Antidepressiva. Er empfahl mir eine Verhaltenstherapie und gab mir eine Liste – ich glaube, sie war sechs Seiten lang – mit Namen und Telefonnummern von Therapeut*innen.
Ich rief alle an, um zeitnah einen Termin zu bekommen. Doch ich hatte bei niemandem Erfolg. Entweder waren es nur Privatpraxen, oder die Wartelisten betrugen mindestens acht Monate.
Mir wurde gesagt, ich solle die 116 117 anrufen und um Hilfe bitten.
Gleich beim ersten Anruf bin ich explodiert – schließlich wird ja jeder Anruf aufgezeichnet.
Die Frau am anderen Ende lachte mich mit meinem Ansinnen wirklich aus und fragte, wie ich mir das vorstelle, ob ich glaube, sie könne einen Therapeuten aus dem Hut zaubern.
Als ich mit ihr fertig war, entschuldigte sie sich plötzlich. Ich wurde zu einem Mann weitergeleitet, der mir zwar zunächst nicht helfen konnte, aber einen super Tipp für mich hatte:
Ich müsse dreimal in der gleichen Angelegenheit anrufen und mir jeweils Datum und Uhrzeit notieren.
Das tat ich dann. Beim dritten Anruf gab ich die Daten durch – und wurde erneut verbunden.
Diesmal war eine Frau dran, die eine gewisse Autorität ausstrahlte.
Sie sagte, sie würde mir eine E-Mail schicken, und ich müsse den Termin telefonisch bestätigen. Das tat ich.
Danach musste ich die Psychologin selbst anrufen und auch bei ihr den Termin bestätigen – auch das tat ich.
Endlich war es so weit.
Ich ging hin – und war entsetzt und frustriert zugleich.
Zunächst sagte sie mir eine Viertelstunde lang, dass sie es gar nicht gerne hat, wenn sie gezwungen wird, jemanden zu nehmen. Und ob ich überhaupt schon Ziele für die Therapie definiert hätte.
Ich hatte keine Ahnung, was sie überhaupt von mir wollte.
Die Stimmung war gereizt. Sie versuchte, mich einzuschätzen, und fragte sich offenbar, ob ich eine Gefahr für sie darstellen könnte.
Eine Woche später ging ich wieder hin. Und sie reizte mich bis aufs Blut.
Da habe ich verstanden, dass sie wissen wollte, ob ich gefährlich werden kann.
Dann fing sie an:
Dass es Gottes Wunsch gewesen sei, dass meine Frau sterben sollte.
Dass ich dankbar sein sollte, weil sie so qualvoll gestorben ist – denn so sei ihr Platz im Himmel sicher.
Ich war fassungslos.
Dann begann sie, über die „Bühne des Lebens“ zu sprechen – ich solle mir mein Leben wie ein Theaterstück vorstellen und Rückschau halten.
Ich kam mir komplett verarscht vor und sagte ihr, dass sie anfängt, mir tierisch auf die Nerven zu gehen – mit ihrem „blöden Geschwätz“. Und dass wir wegen ihrer zu stark geratenen weiblichen Seite und ihrer Geltungssucht schon viel zu viel Zeit verloren hätten.
Da wurde sie ganz ruhig. Überlegte. Und fing dann an, herzhaft zu lachen – aus tiefstem Herzen.
Das war so ansteckend, dass ich mitlachen musste. Das Eis war gebrochen.
Sie kam aus Bayern und hatte einen Akzent, den ich tierisch gern mochte – ich hatte ja selbst eine Zeit lang dort gelebt. Die Bayern sind erzkatholisch – und das kam mir jetzt zugute. Denn ich konnte auch über Spiritualität, Gott und ein paar seltsame Dinge reden, die mir nach dem Tod meiner Frau passiert waren, ohne dass ich gleich in der geschlossenen lande.
Auffällig war wieder das Thema „meine Mutter“ und „mein großer Bruder“.
Ich sagte:
„Ich muss alles selbst machen, weil er kein Verantwortungsgefühl hat. Er ist stinkefaul, ein empathieloser Mistkerl.“
Da sagte sie:
„Richte nicht, auf dass du nicht gerichtet wirst.“
Sie war teilweise geschockt über das, was ich erzählte – aber sie hörte nicht auf, zuzuhören.
Sie erklärte mir irre viel und half mir, ein Verständnis für mich selbst zu entwickeln.
Sie machte mir Mut, weiterzumachen – und bestärkte mich in meiner Überzeugung, dass ich in der Trauer ein besserer Mensch geworden sei.
Meine Sprache, mein Wesen, meine Energie hatten sich komplett verändert.
Ich war sehr darauf bedacht, andere nicht zu verletzen.
Ich war hochsensibel geworden, was Menschen und ihre Gemütszustände anging.
Ich konnte mit ihr über Dinge reden, die ich mit meinem Psychiater nie hätte besprechen können.
Er sagte bei unserem ersten Treffen:
„Wenn Sie mit Gott sprechen, ist das kein Problem. Aber wenn Gott Ihnen antwortet, kommen Sie bitte sofort vorbei.“
Sie hingegen war auch während der schweren Zeit mit Tomi an meiner Seite.
Sie nahm mir viel von meinem Schmerz.
Ich bin ihr heute unendlich dankbar.
Als wir uns verabschiedet haben, haben wir uns herzlich umarmt.
Sie sagte:
„Wenn Sie mich noch einmal brauchen, rufen Sie mich an.“
Gibt es etwas Schöneres?
8. Übergang zur Maßnahme – und die Begegnung mit Nora
Nach einigen Wochen meldete sich mein Therapeut. Er erzählte von einer Maßnahme, die entweder auf eine Rückkehr ins Berufsleben oder auf eine neue Ausbildung vorbereiten sollte.
Ich war unsicher – über 50, gesundheitlich angeschlagen, lange raus aus allem. Trotzdem vereinbarte ich einen Termin, um mir das anzuschauen. An dem Tag waren mehrere Personen eingeladen – aber ich war der Einzige, der kam.
Der Leiter der Maßnahme nahm sich zwei Stunden Zeit für mich. Er kam aus der Gastronomie, hatte eine beeindruckende Vita, und in diesen zwei Stunden stellte er mir viele Fragen, zeigte mir Widersprüche in meinem Denken auf und gab mir Impulse mit, die mich nicht mehr losließen. Ich überlegte zwei Wochen lang.
Schließlich fragte ich meine Sachbearbeiterin, ob sie eine Möglichkeit zur Finanzierung sähe.
Sie freute sich ehrlich über meinen Schritt – und genehmigte mir die Teilnahme.
In dieser Maßnahme lernte ich Nora kennen.
Damals ahnte ich nicht, wie sehr sie meinen weiteren Weg prägen würde.